Die freie Wahl des Arbeitsplatzes, die sich in postpandemischen Zeiten andeutet, wird die Welt der Arbeit nachhaltig verändern. Und die Gesellschaft auch – alles auf Anfang.

Schauen wir auf die zurückliegenden industriellen Revolutionen und welche Auswirkungen sie auf die unterschiedlichen Aspekte unseres Lebens hatten:

Die erste industrielle Revolution begann im 18. Jahrhundert und war durch zunehmende Mechansierung gekennzeichnet. Allerdings wurden viele der vor allem dampfgetriebenen Maschinen lokal und in kleineren Manufakturen eingesetzt. Ein Teil der Menschen gaben die Landwirtschaft auf und begaben sich in abhängige Beschäftigung.

Die zweite industrielle Revolution, die zum Ende des 19. Jahrhunderts einsetzte, wurde durch technologische Fortschritte in der Industrie eingeleitet und durch die Nutzung neuer Energiequellen wie Elektrizität, Gas und Öl. Infolgedessen verlagerte sich die Produktion immer mehr hin zu zentralen Standorten, meist in oder nahe größerer Städte. Ein bedeutsamer Anteil der Bevölkerung verließ zum ersten Mal seit vielen tausend Jahren die Dörfer, in denen schon viele Generationen zuvor ihre Vorfahren gelebt und die Erde bestellt hatten – von den Völkerwanderungen, die durch Hunger, Krieg oder Abenteuerlust ausgelöst worden waren, abgesehen. Man ging mit vielen Gleichgesinnten morgens in die Fabrik und verließ sie zum Feierabend. Das führte zum Wachstum der Städte, zum Zerfall bzw. zur Veränderung von Familienstrukturen, zum Beginn der Befreiung benachteiligter Gruppen.

Parallel dazu bestand für Unternehmen die Notwendigkeit, eine große Menge von Daten zu kategorisieren, auszuwerten und katalogisieren. Es entstand eine neue Klasse von Beschäftigten – Menschen, die nicht in der Produktion, sondern in der Verwaltung beschäftigt waren. Circa 30 Jahre, nachdem Frederick Winslow Taylor die Produktivität der mechanisierten Arbeit durch seine Innovationen um ein Vielfaches steigern konnte, führte Alfred P. Sloan die funktionale (Silo-)Organisation ein, die für fast einhundert Jahre die Blaupause für Organigramme sein sollte. Niemand hätte im 20. Jahrhundert je daran gezweifelt, dass sich der Ort der Arbeit für abhängig Beschäftigte in einem Gebäude befinden würde, das das Unternehmen speziell für diesen Zweck errichtet hatte.

Die dritte Industrielle Revolution, die  in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts begann und mit dem Aufstieg der Elektronik und der Telekommunikation verbunden werden kann, führte dazu, dass in den Büros die Rechen- und Schreibmaschinen durch Computer ersetzt wurden. Am Ort der Arbeit änderte das nichts.

Die vierte industrielle Revolution, die nur 20 Jahre nach der dritten einsetzte, gründete sich auf einer winzigen Innovation – dem Hypertext Protocol, das Tim Berners Lee 1989 vorschlug und das aus dem Internet das World Wide Web machte. Damit war ein wichtiger Grund für gemeinsame Arbeit im gleichen Bürogebäude obsolet: die Transaktionskosten für Information gingen gegen Null. Trotzdem änderte sich der Ort der Arbeit nur für diejenigen, die selbständig tätig waren; nicht jedoch für Angestellte. Warum nur?

Ich kann nur zwei weitere Gründe entdecken, warum Menschen dazu gewungen werden sollten, an einem gemeinsamen Ort ihrer Arbeit nachzugehen: Erstens, weil sie dort durch die Klasse der Manager (deren Einführung auf Taylor zurückgeht) dirgiert und kontrolliert werden können. Zweitens, weil Teamarbeit durch Begegnung und Austausch im Bürogebäude effektiver wird.

Merken Sie es? Grund Nr. 1 entspricht nicht mehr der modernen Managementphilosophie und wurde durch die Einführung agiler Arbeitsweisen in selbstorganisierten Teams weitgehend entkräftet. Grund Nr. 2 erscheint nicht sehr stichhaltig, da Netzwerke und Teams von Freiberuflern und Selbstständigen schon seit längerem auf ständige Präsenz im gleichen Gebäude verzichten und trotzdem hocheffektiv sein können. Und der Rest der Arbeitswelt hat das spätestens während der 18 Monaten der Pandemie erfahren können.

Na klar: es gibt andere Gründe, warum Kollegen und Kolleginnen sich in der analogen Welt begegnen sollten; die meisten hängen mit Begriffen wie Verbundenheit, Wärme, Kreativität usw. zusammen. Braucht man das? Ja. Braucht man das jeden Tag? Nö.

Also: ich läute hier mal die fünfte industrielle Revolution ein. Und die besteht darin, dass ein wichtiger Aspekt der zweiten wieder rückgängig gemacht wird: der Ort der Arbeit wird vom Unternehmensstandort entkoppelt. Zumindest für die, die nicht an Maschinen oder im Lager oder im Labor stehen müssen (aber durch die zunehmende Automatisierung werden das auch immer weniger).

Welche Konsequenzen wird das auf die Gesellschaft haben? Das ist schwer abzuschätzen. Der Drang aus den Städten heraus wird stärker; der Provinz wird vermutlich ein fundamentaler Kulturwandel bevorstehen, wenn sie von den urbanen Eliten besiedelt wird. Die Immobilienpreise werden auch weit weg vom Speckgürtel der Städte ins Astronomische steigen – und die Marginalisierung der Wenigverdiener wird größer. Familienkonstrukte werden neu gemischt, anything goes, von der Stärkung der Kleinfamilie bis zu gemeinschaftlichen Wohn- und Lebensprojekten auf dem Land. Durch die erforderliche Selbstverantwortung und -organisation von Angestellten wird sich das Selbstbewusstsein verändern. Vielleicht kommt es zu einer wirklichen Chancengleichheit von Frauen. Berufe und Gewerbe, die man vor allem in Städten findet, wird es in der Breite des Landes geben. Die Gründe, warum man in der Stadt leben sollte, werden weniger. Der öffentliche Nahverkehr wird ausgebaut. Das alles natürlich nur, wenn die Politik diese Entwicklung rechtzeitig erkennt und entsprechend reagiert. Ich weiß, daran besteht berechtigter Zweifel. Aber vielleicht gibt es ja auch selbstorganisierte Initiativen, die eigene Lösungen für ihre Bedarfe entwickeln

Alle das deutet sich schon an. In zehn bis zwanzig Jahren ist hybrides Arbeiten so normal wie heute der elektronische Versandhandel oder Fernsehen auf dem Smartphone. Dann gehen wir auch einmal in die Firma, weil es da so schön ist. Aber bitte nicht jeden Tag!

Vive la révolution!

 

Titelbild: Shutterstock © 2021