Vorsicht: heute wird es philosophisch! In diesem Blogpost möchte ich der Frage nachgehen, inwieweit hybride Lebens- und Arbeitswelten der Realität, in der wir uns befinden, am nächsten kommen. Mit anderen Worten: Leben wir nicht seit langem schon in einer hybriden (Zwischen-)Welt, in der die Grenzen zwischen haptisch-physikalisch-analoger und virtuell-digitaler Umgebung äußerst fließend sind?

Bevor ich meine Argumentationskette ausbreite, muss ich darauf hinweisen, dass die Grundgedanken nicht aus meiner Feder bzw. meinem Geist stammen, sondern in aller Ausführlichkeit von David Chalmers in seinem faszinierenden neuen Buch Reality+ dargelegt worden sind. Allerdings bezieht sich Chalmers nicht auf die hybride Situation; meine Gedanken sind eine Variation seiner Analyse von Augmented Reality. Ich kann das Buch jedem nur wärmstens ans Herz legen. Die Grundhypothese, die Chalmers auf über 400 Seiten genüsslich darlegt, sagt aus, dass wir nicht beweisen können, dass wir nicht in einer Simulation (also ähnlich wie in dem Film Matrix) leben. Auf dem gedanklichen Weg dorthin streift er so unterschiedliche philosophische Konstrukte wie Gott, Wissen, Realität vieles anderes.

Chalmers legt ausführlich seine Ansicht dar, dass digitale Objekte – also zum Beispiel ein digital erzeugtes Gebäude – genauso reell sind wie ihre Entsprechungen in der haptisch-analogen Welt. Sie sind nicht das gleiche, aber sie sind in ihrem entsprechenden Umgebungen reell – als digitales bzw. analoges Objekt. In seiner Betrachtung von Augmented Reality – also der durch Hilfsmittel wie zum Beispiel Datenbrillen erzeugten analog/gemischten Realität – spricht er vom physikalisch-virtuellen Kontinuum (ich bevorzuge den Begriff analog-digitales Kontinuum), in dem wir sowohl mit haptisch-analogen als auch mit digitalen Objekten interagieren. Beide Arten von Objekten sind nach Chalmers Ansicht reell – aber eben entweder analog oder virtuell reell. Ein digitales Objekt wird durch Bits erzeugt, ein analoges Objekt durch Elementarteilchen, wie zum Beispiel Atome.

Wir leben in einer hybriden Welt

Was mich zur hybriden Lebenswelt bringt, die ich ausführlich in meinem geraden erschienenen “Praxisbuch Hybride Teams” beschrieben habe. In der postpandemischen Arbeitskultur ist es für die meisten Arbeitnehmer schon eine Selbstverständlichkeit geworden, dass sie ihrer Kollegin heute in Fleisch und Blut gegenüber stehen und sie nicht nur sehen und hören, sondern auch anfassen und evtl. auch riechen können – Qualitäten, die digital bisher nicht oder nur in Ansätzen abgebildet werden können. Morgen bin ich mit der Kollegin vielleicht digital verbunden – wir sitzen vor unseren elektronischen Ausgabegeräten. Die Darstellung der digitalen Person ist zweidimensional – ein weiterer Unterschied –, auch wenn unsere Sinne uns Dreidimensionalität vorgaukeln, da wir gelernt haben, in Perspektiven zu denken.

In der Kulturgeschichte der Menschheit gab es immer schon hybride Welten, vor allem vermittelt durch Religionen. Gläubige Menschen, die sich die Praxis tiefer Kontemplation zu eigen gemacht haben, nehmen nicht-stoffliche Szenarien wahr – oder kommunizieren sogar mit “virtuellen” Wesen, die sie als Gott oder mit dem Namen einer Heiligen bezeichnen. Man denke nur an die Praxis der australischen Aborigines, mit den Ahnen über Gesänge in Verbindung zu treten. Diese “virtuellen” Wesen sind Teil ihrer Realität. Hard-Core Materialisten, die nicht-stoffliche Realitäten ablehnen, soll nur auf die Erkenntnisse der Quantenphysik, aber auch der Neurowissenschaften hingewiesen werden, die uns daran zweifeln lassen, dass es eine absolute, von allen gleich empfundene Realität gibt. Aber ich schweife ab.

Bis vor wenigen Jahren war die digitale Zusammenarbeit die Ausnahme in einer analog orientierten Welt. Aber in meinem ersten virtuellen Team vor ca. 10 Jahren war die analoge Zusammenarbeit die Ausnahme, da wir uns im gesamten Team nur einmal pro Jahr face-to-face getroffen hatten. Über die letzten zwei Jahre der Pandemie war das für viele Teams nicht anders.

Leben wir also schon in der “neuen Normalität”, von der so viel geredet wird? Und wenn ja, was zeichnet sie aus? Ich würde es wie folgt beschreiben: Es gibt das bereits genannte analog-digitale Kontinuum der Zusammenarbeit. Auf der einen Seite wird es immer noch Teams geben, die vollständig und immer in direkter räumlicher Nähe zusammenarbeiten. Ich denke an Produktionseinheiten, an die Müllabfuhr, das Installationskommando, das meine Dusche repariert und an ein Team im Krankenhaus. Aber halt: wenn sich eine der Ärztinnen, pandemiebedingt in häuslicher Quarantäne isoliert, per Videokonferenz in das Geschehen vor Ort einmischt – handelt es sich dann noch um ein analoges Team? Auf der anderen Seite gibt es schon seit längerem verteilte Teams, die sich nie in Person begegnen, sondern grundsätzlich virtuell zusammenarbeiten. Außer, wenn sie sich wie mein früheres Team dann doch einmal an einem Ort treffen.

In vielen Unternehmen ist heute schon selbstverständlich, dass die Zwischenformen – eben die hybride Zusammenarbeit – als gleichwertig oder sogar überlegen angesehen werden. Das ist eine Revolution der Arbeitswelt, die bis vor zwei Jahren zwar als die Zukunft der Arbeit beschrieben wurde, aber in Praxis an Unternehmensrichtlinien, also genauer gesagt, an der in Arbeitsverträgen festgelegten Präsenzarbeitszeit scheiterte. Ich erinnere mich an den Fall eines Kollegen, der seinem Arbeitgeber kündigte, nachdem dieser ihm nach dem tragischen Tod seiner Frau und der Notwendigkeit, sein Kind in einer anderen Stadt als seinem vorgesehenen Arbeitsort aufzuziehen, nicht gestattete, seine Arbeit virtuell fortzuführen – was in seinem Fall ohne Probleme funktioniert hätte. Dies geschah vor ca. fünf Jahren. Heute ist für das gleiche Unternehmen die Zusammenarbeit in hybriden Teams selbstverständlich.

Wenn es also wahr ist, dass die neue Arbeitswelt von hybrider Zusammenarbeit geprägt ist, gibt es viel zu tun. Das betrifft alle Bereiche der Gesellschaft. Zuerst einmal müssen Arbeits- und Arbeitsschutzgesetze angepasst werden. Solche profanen Dinge wie Krankenversicherungen und Steuergesetzlichkeit gehören dazu. Das Bildungssystem muss auf mobilere Lebensweisen ausgerichtet werden. Breitband- oder wenigstens 5G-Funknetze müssen jeden Winkel der Republik abdecken. In Bezug auf die Technologie der Zusammenarbeit werden wir sicherlich in den nächsten zehn Jahren viele Überraschungen erleben, die heute noch ein bisschen wie Science Fiction klingen.

Aber das ist alles nichts gegen den Schalter im Kopf, den wir alle umlegen müssen. Wir müssen lernen, das beste aus dem jeweiligen Szenarium zu machen, um optimale Bedingungen der Zusammenarbeit zu schaffen.

Ach ja, was hat das alles mit dem Film “Avatar” zu tun, an den das Titelbild dieses Blogs erinnert (es ist dem Film nur nachempfunden)? Der bereist zitierte David Chalmers nimmt ausführlich Bezug auf dieses wie auch viele andere Beispiele der Literatur- und Filmgeschichte. Es erhebt sich die Frage, wer ich eigentlich bin, wenn ich selbst in augmentierte oder in völlig virtuell erzeugte Welten eintauche. Da wir in nicht zu fernen Zukunft Technolgie von Augmented Reality auch für die  Zusammenarbeit in hybriden Teams nutzen werden – mein dreidimensionales Hologramm taucht dann mal zu einem Meeting in New York oder Singapur auf, obwohl ich eigentlich auf dem Land in Brandenburg sitze – stellt sich die Frage von Richard David Precht: Wer bin ich, und wenn ja, wie viele?

 

Wer mehr über die notwendigen Veränderungen im Kopf erfahren will, kann dies in meinem neuen Buch nachlesen.

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